Hans-Böckler-Stiftung, Pressemitteilung vom 17.05.2017

Kommen Durchschnittsverdiener mit dem Spitzensatz der Einkommensteuer von 42 Prozent in Berührung? Manche Medienberichte und Veröffentlichungen von Interessengruppen legen das nahe. Tatsächlich aber bleiben Alleinstehende und erst recht Paare und Familien mit durchschnittlichen Einkommen stets deutlich darunter. Das zeigt das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung anhand von konkreten Berechnungen für unterschiedliche Steuerfälle. Die durchschnittliche Einkommensteuerbelastung von Durchschnittsverdienern liegt je nach Familienkonstellation zwischen 1,4 und maximal 19,2 Prozent des Bruttoeinkommens – Solidaritätszuschlag inklusive. Schaut man auf Beschäftigte mit Medianeinkommen, ist die Belastung noch spürbar niedriger.

„Je alarmistischer Darstellungen daherkommen, desto wahrscheinlicher ist, dass wesentliche Größen nicht sauber voneinander abgegrenzt werden“, erklärt Dr. Katja Rietzler, IMK-Expertin für Finanzpolitik. Dabei identifiziert die Forscherin drei Fehlerquellen: Erstens herrscht oft Unklarheit darüber, wie hoch durchschnittliche Einkommen in Deutschland sind – nicht selten werden sie überschätzt. Zweitens wird nicht unterschieden zwischen Bruttoeinkommen und zu versteuerndem Einkommen. Drittens geht es bisweilen durcheinander zwischen Durchschnittssteuersatz und Grenzsteuersatz.

In ihrer aktuellen Steuerschätzung durchleuchten Rietzler und ihre Forscherkollegen alle drei Faktoren Schritt für Schritt:

1. Das Durchschnittseinkommen: Die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung weist für 2016 als durchschnittlichen Bruttolohn pro Arbeitnehmer 33.259 Euro aus. Allerdings werden dabei ohne Ansehen der Arbeitszeit alle Beschäftigungsverhältnisse vom Minijob bis zur Vollzeitbeschäftigung in einen Topf geworfen. Aussagefähiger ist die Betrachtung von Vollzeitverdiensten.

Dafür ergeben sich auf Basis der fortgeschriebenen Verdienststrukturerhebung des Statistischen Bundesamtes im Jahr 2017 zwei relevante Werte: 41.742 Euro beträgt das Medianeinkommen – also der Wert, der genau in der Mitte wäre, wenn man alle Einkommenszettel von Vollzeitbeschäftigten nebeneinanderlegen würde. Der Durchschnittswert (arithmetisches Mittel) liegt bei 49.915 Euro. Die Differenz entsteht dadurch, dass sehr hohe Einkommen, etwa von Managern, den Durchschnittswert nach oben verschieben, während der Median davon unbeeinflusst bleibt. Wichtig zu wissen: Wer den Durchschnittswert verdient, liegt daher fast schon im oberen Drittel der Einkommensverteilung: rund 65 Prozent aller Vollzeitbeschäftigten bekommen weniger.

2. Bruttoeinkommen versus zu versteuerndes Einkommen: Maßgeblich für die Berechnung der Einkommensteuer ist nicht das Bruttoeinkommen, sondern das zu versteuernde Einkommen (ZVE). Es wird ermittelt, indem man vom Brutto die steuerrechtlich relevanten Freibeträge abzieht. Dazu zählen etwa der Arbeitnehmerfreibetrag oder die Vorsorgepauschale. Wie stark sich beide Größen voneinander unterscheiden, variiert individuell. Das ZVE liegt aber immer um mehrere tausend Euro unter dem Bruttoeinkommen. „Dieser Abstand ist im Laufe des letzten Jahrzehnts größer geworden, weil Steuerzahler mehr absetzen können, etwa ihre Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung. Dadurch wurden die meisten entlastet. Steuerkritiker blenden das immer wieder aus“, sagt Rietzler.

Das IMK arbeitet für seine Beispielrechnungen mit Pauschbeträgen, die eher die untere Grenze dessen angeben, was vom Brutto abgerechnet werden kann. Das ZVE für einen Single mit Medianverdienst beträgt so etwas über 34.000 Euro. Bei einem Durchschnittsverdienst sind es knapp 41.000 Euro.

3. Durchschnittssteuersatz versus Grenzsteuersatz: Da der Einkommensteuertarif progressiv ansteigt, zahlt niemand auf sein gesamtes Einkommen den gleichen Steuersatz. Als Grenzsteuersatz wird der Anteil bezeichnet, der auf einen zusätzlich verdienten Euro beim ZVE anfällt. Beispiel: Der Spitzensteuersatz von 42 Prozent fällt derzeit bei einem Single auf jeden Euro ZVE jenseits von 53.665 Euro an. Das entspricht einem Bruttoeinkommen von knapp 64.000 Euro. Das Einkommen unterhalb dieser Marke wird niedriger versteuert. Wer wissen will, wie viel er im Mittel von seinem Gesamteinkommen abgeben muss, muss deshalb seine durchschnittliche Steuerbelastung betrachten.
Ergebnis:

Durchschnittsverdiener deutlich unter dem Spitzensatz. In seinen Beispielrechnungen (siehe auch die Tabelle in der pdf-Version dieser PM; Link unten) weist das IMK den durchschnittlichen und den Grenzsteuersatz für Durchschnittsverdiener aus. Dabei differenzieren die Forscher zwischen Median- und Durchschnittseinkommen sowie für Alleinstehende, Ehepaare ohne und Ehepaare mit Kindern. Dabei zeigt sich: In keinem Fall kommen Durchschnittsverdiener in die Nähe des Spitzensatzes.

Gemessen am Bruttoeinkommen zahlt ein Ehepaar mit zwei Kindern und Medianverdienst unter Berücksichtigung des Kindergeldes gar keine Einkommensteuer. Beim Durchschnittsverdienst liegt die durchschnittliche Einkommensteuerbelastung inklusive Solidaritätszuschlag bei 1,4 Prozent. Ein Paar ohne Kinder zahlt durchschnittlich 8,8 bzw. 11,1 Prozent. Bei einem Alleinstehenden sind es 17 bzw. 19,2 Prozent. Bezieht man die Steuern auf das niedrigere ZVE, fallen die Anteile naturgemäß meist etwas höher aus, sie übersteigen aber nie 23,4 Prozent. Und auch die Grenzsteuersätze, die ja nur auf einen kleinen Teil des Einkommens anfallen, bleiben immer deutlich unter dem Spitzensatz (siehe die Tabelle). Das gilt insbesondere für Familien: Sie zahlen, gemessen am ZVE, ohne Solidaritätszuschlag im Falle des Durchschnittseinkommens einen Grenzsteuersatz von 15,6 Prozent. Bei Alleinstehenden mit Medianeinkommen erreicht der Grenzsteuersatz relativ zum ZVE 32,8 Prozent, bei Singles mit Durchschnittseinkommen 35,8 Prozent.

Quelle: Hans-Böckler-Stiftung